Texte

“Man kann in Jürgen Liefmanns zeichnerischem Werk von Bildsequenzen sprechen, Sequenzen, in welchen
Formen erprobt werden. Formen, die in einer assoziativ-logischen Weise aufeinander folgen, - und
doch in jedem Blatt zu völlig anderen, unverhofften Ergebnissen führen. Unter dem Aspekt der Form erscheint
Liefmanns Gesamtwerk wie eine unendliche ”Geschichte”, deren Anfang im Dunkeln liegt und die aus sich
selbst schöpfend immer neue Variationen, Modulationen, Epiphanien hervorbringt, wie eine Kugel, die bald
hierhin bald dorthin rollt und doch stets vollkommen und rund erscheint.

In dieser unendlichen “Geschichte der Form” gibt es keine feste Regeln, “Gegenständliches” wie der “Motor-
radfahrer” wird abgelöst von “abstrakten” Formen, sogar Elemente der “Konkreten Kunst” scheinen gelegentlich
aufzutauchen, - Bewegung und Statik, monumentale Größe und kleinteilige Präzision, scharfe Lineatur und
breitflächiger Pinselduktus wechseln einander scheinbar willkürlich ab; - konstant bleibt der Wille zur Form, der
nichts Zufall oder Glück überläßt, sondern unermüdlich ringt um die neue Bildsensation, das Erlebnis, dem
Dasein und Sosein eine neue Ansicht abzugewinnen.”

Gerhard Finckh (aus dem Katalogtext Städtische Galerie Museum Folkwang Essen, 1999)

 

“Jürgen Liefmanns Zeichnungen haben die nachhaltige Schönheit, in der Energie und Behutsamkeit, Anspannung
und Gelassenheit einander die Waage halten. Manchmal kommt er zu nahezu abstrakten Formen, die
innerhalb der Werkfolge schlüssig sind, die er aber nicht weiter führt - das ist nicht seine Domäne. Um sich
stimmig und genau mitzuteilen, braucht er die Außenwelt, äußere Bilder, arbeitet er mit Motiven, die er gesehen,
erlebt hat, die er kennt. So geht er von Figur und Landschaft aus, nutzt sie als Mittel, und ist doch weder
figurativer Maler noch Landschafter. ”Abstrakt ist nicht das richtige Wort”, meint er, “aber ich finde, es sind wirklich
keine Figuren, es ist eher eine Haltung”.

Das Ziel ist immer die Balance, das empfindliche Gleichgewicht, das die Bilder durch die bedachte Zuordnung
ihrer einzelnen Elemente untereinander wahren. Daß der Zustand der Balance im Bild geradeso wie im
Leben gefährdet ist, teilt sich spürbar mit. Oft scheint die Zeit angehalten, und Bilder stehen wie Momentaufnahmen
vor Augen. Es gibt keine Handlung, nichts passiert, es sind aus einem zeitlichen Verlauf isoliert spannungsvolle
Augenblicke. Wer das Bild anschaut, sucht sich sogleich den möglichen Moment davor und danach zu vergegen-
wärtigen. Für Jürgen Liefmann bedeutet der reglose Moment im Anhalten der Zeit die Chance, alles in Ruhe genau
zu erkunden.”

Irma Schlagheck (aus dem Katalogtext w.o.)

 

“Aus dem vermeintlichen ”Erzähler” von Bildgeschichten ist ein auf der Grenze zwischen Zeichnung und gestischer
Malerei operierender Künstler geworden, dem es oft nicht mehr gelingt, zum Ausgangspunkt seiner Bilder,
der menschlichen Figur, zurückzukehren. Vieles aus der Bildwelt früherer Zeichnungen und farbiger Bilder ist
verschwunden, scheint von der überbordenden Schwärze der Tusche und Leimfarbe verschluckt: die kurvigen Wege,
die den Blick durch karge Landschaften leiteten, die Radfahrer als Chiffren für Bewegung wie auch Labilität;
die die Personen begleitenden Schatten und oftmals sogar die menschlichen Gestalten selbst.
Von der Landschaft ist nur noch die Horizontale des Querformats übrig geblieben, von dem Menschen die
Vertikale des Hochformats.”

Jörg Becker (aus dem Katalogtext Städtische Galerie Albstadt, 2000)

 

“Vor dem Hintergrund der Arbeiten, die Becker interpretiert, wirken die Blätter aus New York, denen das Hauptaugenmerk der Saarbrücker Ausstellung gilt, zunächst wie "Rückfälle" in die Figuration. Ansichten des Atelierraums, den Liefmann bewohnte, und Straßenszenen stehen im Mittelpunkt der zeichnerischen Notate, mit denen sich der Künstler einer neuen und ungewohnten Umgebung zu versichern, sich in ihr zu orientieren suchte. Mehr noch als frühere Zeichnungsfolgen scheinen die New Yorker Sequenzen vom Versuch zeugen, sich eines Ortes zu vergewissern - im doppelten Sinne: Zum einen nämlich wird hier der Eindruck der Stadt verarbeitet wie andererseits die offensichtlich als ungesichert empfundene Position des Zeichners darin. Der Horizont in den Atelierbildern kommt zunehmend "ins Rutschen", kippt aus der einen sicheren Standort garantierenden Waagerechten, und mit ihm die verloren wirkende, zweifellos als Selbstbildnis aufzufassende Figur. Fortschreitend wird auch in dieser Serie die Tendenz zur "Verdunkelung" sichtbar, zu einer Darstellung "Schwarz in Schwarz", die allerdings nicht einmal blieb, was sie sein sollte. Die in New York gekaufte Temperafarbe blich zu einem unvorhergesehenen und unbeabsichtigten schmutzigen Braunviolett aus, welches die graphische Eindeutigkeit relativierte und damit auch das Moment der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit ins Spiel brachte.”

Ernest W. Uthemann (aus dem Katalogtext Saarland Museum Saarbrücken, 2001)

 

"Es sind Selbstbildnisse, aber keine Abbilder eines Menschen. Die großformatigen Zeichnungen von Jürgen Liefmann hinterlassen die Spuren eines Menschen in Zeit und Raum. Der in Berlin lebende Maler und Zeichner, der gerade seine im vergangenen Jahr entstandenen Arbeiten auf Papier im Studio des Saarländischen Künstlerhauses zeigt, ist in Saarbrücken kein Unbekannter. 2001 hatte er eine Ausstellung in der Studiogalerie des Saarlandmuseums. Zwei Arbeiten mit schwarz sich kreuzendem Strichwerk grüßen noch aus dieser Zeit, aber jetzt herrschen Orange und Rosa vor. Mit ihnen zeichnet Liefmann buchstäblich Zeit als Prozess und Sein als Linienstrukturen nach und nennt es "schwierige Situation" oder "weitere Gedanken unauffällig". Die Formate sind dabei so gewählt, daß der ganze Körper sich einbringt, um Waagerechten und Senkrechten zu organisieren. Liefmann bildet dabei unmittelbar wie ein Seismograph Ordungswille und dessen Scheitern, Meditation im Gleichmaß und die Störung, die Pause, die Unterbrechung in gebrochenen und sich überlagernden Linien ab. Er ist persönlich, ohne je vertraulich zu sein. Diese Offenheit überzeugt mit Genauigkeit und selbstironischer Distanz."

Sabine Graf (Saarbrücker Zeitung vom 29./30.3.2008)

 

"Auf den ersten Blick bestehen die Bilder von Jürgen Liefmann aus Farbfeldern. Manchmal sind das Kreise in Grau, Orange oder Hellblau. Ein anderes Mal, wie im Fall der hier abgebildeten unbetitelten Gouache von 2016, füllen ausgefranste Rechtecke das Papier. Immer aber spielen Abstände, Platzierungen und Verbindungslinien, die der Künstler in einigen Fällen gezogen hat, eine wichtige Rolle. Denn es kommt auf das Verhältnis aller Details zueinander an. Ihre Verteilung im Bildraum erzählt Geschichten: von Begegnung und Abstoßung, Nähe und Distanz. Man kann die abstrakten Muster auch als familiäre Aufstellung lesen - als einen Rückblick auf jene Historie, die Liefmann unbewusst geprägt hat. Sein jüngster Katalog mit Zeichnungen, Fotografien, Texten und einer ganzen Reihe solcher Blätter heißt schließlich "wo was her kommt". Auf den Seiten entfaltet sich als Collage ein ganzes Leben, eingebettet in die Vergangenheit seiner jüdischen Familie."

Christiane Meixner (Mehr Berlin, Der Tagesspiegel vom 26.8.2017)



"Bei den Bildern von Jürgen Liefmann sehe ich den Versuch, eine Bildsprache zu finden, ohne tradierte Formen zu wiederholen. Es ist ein Herantasten an eine neue unbelastete Formensprache; nach dem "Letzten Bild", ein Suchen nach einem Neuanfang. Obwohl man Fragmente finden kann, die an Formen des Konstruktivismus oder der informellen Malerei erinnern, verzichtet Liefmann auf den ideologischen Überbau dieser Bewegungen. Es sind malerische Gesten, flüchtige Zitate aus der Geschichte der gegenstandslosen Malerei. Er verzichtet auch auf handwerkliche Virtuosität, zugunsten einer spielerischen Offenheit und Unbestimmtheit. Folgerichtig haben wir auch bei der Präsentation der Blätter weitgehend auf Rahmungen, Passepartouts oder ähnliche Mittel verzichtet. Die Blätter sind wie im Atelier an die nackte Wand geklebt. Wir wollten die Arbeiten so pur wie möglich belassen. Sie müssen ohne die im Kunstbetrieb geläufigen Aufwertungsmittel auskommen. Die Betrachter können direkt  mit dem Material, den Formen der Bearbeitung, der Komposition, dem Duktus der Handschrift in Kontakt treten. Liefmanns Arbeiten beleuchten die essentiellen Eigenschaften der Malerei und Zeichnung noch bevor sie ein Bild werden. Es ist Farbe auf einem Trägermaterial, in diesem Fall Papier, das die Betrachter ermuntert, den gegebenen rudimentären Formen im Geiste zu folgen, sie zu korrigieren oder zu ergänzen. Für mich demonstrieren Liefmanns Arbeiten gleichermaßen Leichtigkeit, Humor und gelegentlich ein Portion Ironie."

Michael Behn (aus der Eröffnungsrede in der Galerie Stella A., Berlin, am 12.9.2019)